Der Seeweg nach Indien – Grafikmappe
Wolfgang J. Türk, Katalogbeitrag zur Ausstellung Der Seeweg nach Indien, Lippstadt, 1999

Indien – das entgegengesetzte Ende der Welt, mehr mythischer als geographischer Ort, eine lauernde, verführerische Chimäre hinter dem Horizont der bekannten, erfahrbar gemachten Realität. Die Auffindung des fernen Kontinents beflügelte zu Beginn der Neuzeit den abendländischen Geist, verleitete die seefahrenden Völker und Nationen zum konkurrierenden Wetteifer um das Primat der Entdeckung und blieb – selbst nach seiner kolonialen Inbesitznahme – ein Topos für die Erkundung einer entrückten Wirklichkeit. Dem alten, tradiertem Faszinosum, die Grenzen des Vertrauten zu durchbrechen, um dem lockenden Ruf einer fremden, unerschlossenen Ferne zu folgen, spürt Peer Christian Stuwe in seinen zeichenhaft kryptischen Druckbildern nach. Der Seeweg nach Indien vollzieht in karthographischen und piktoralen Sequenzen die Annäherung an die terra incognita und bahnt den – gefahrvolle Irrtümer und Umwege einschliessenden – Zugang zu einer verborgenen Welt im Wechselspiel verschieden gestaltiger Wahrnehmungen und Impressionen.

Den forschend-süchtigen Augen des Reisenden offenbaren sich zu linearer Ornamentik verschmolzene Schriftzeichen, die mit den abstrakten Figurationen der beigeordneten Graphiken an Eintragungen, Berechnungen und Vermessungen in einem alten nautischen Mappenwerk erinnern. Die in Koordinaten erfasste Topographie erschließt ihre landschaftliche Gestalt in den Ausblicken auf die Weite des Meeres, die – wo nicht die endlose Horizontlinie ein Moment aussichtslosen Suchens evoziert – in der Ferne landschaftliche Formationen unbekannter Gestade erahnen lassen.

Weniger das hoffnungsfroh angesteuerte Ziel der Reise, der anvisierte Endpunkt, als vielmehr die Bewegung zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Wissen und Nicht- Wissen, Gestalthaftem und Gestaltlosem ist Peer Christian Stuwes thematisches Anlie- gen. Das Bestreben, die fremd wahrgenommene Realität mit vertrauten Orten abzugleichen und kategorisierend zu erfassen, korrespondiert mit der rezeptiven Annäherung an die abstrakte Bildsprache der Graphiken, die sich semantisch zu Erinnerungsbildern verdichten, um im nächsten Moment die trügerische Gewissheit des Erkennens im Ungegenständlichen wieder zu zerstreuen.

Die prozessuale Erkundung des Fremden, die Suche nach einer entlegenen Wirklich- keit hinter den Demarkationen des Gewohnten verweist über den künstlerischen Vorwurf hinaus auf den formal-ästhetischen Schaffensakt: die Entdeckerfreude im Umgang mit der spröden Materialität des verwendeten Kartons und die Offenbarung der in der Stofflichkeit beschlossenen Möglichkeiten durch die schablonisierte Freilegung ihrer geheimen, inneren Textur.

Abstrakte Zeichen und Figuren wurden von Peer Christian Stuwe in die willfährig auf- nahmebereite Grundfläche von Wellpappe geritzt, um die reliefierten Strukturen des Inneren bloßzustellen. Die papierenen Wellenlinien, ihre standardisierten Wechsel von Höhen und Tiefen, bildeten in der Begrenzung der erhabenen Restflächen das Model für den Farbauftrag, der die figurativ umfahrenen Elemente des Druckstocks unterschiedlich intensiv akzentuierte und zu einem bildlichen Kontext zusammenfügte. Auf verschiedenfarbigem Grund suggeriert ein und dasselbe Druckbild gänzlich differente Stimmungsmomente, die der angstvollen Bedrängnis durch eine unwirtliche Naturkulisse wie – im Wechsel der Farben – dem stillen Sehnen nach einer illusionären Ferne gleichermaßen Ausdruck verleihen.

Die episodisch gereihten Szenen verdichten sich in der Gesamtschau zu einer Schiffs- passage durch die Fremdheit ferner Gewässer, an deren Ufern die Erkenntnis als verführerisch-lockendes Fabelwesen wartet, um den Wahrheitsdurst des rastlos Suchenden zu stillen. Über den endlosen Wasserteppich dahingleitend, den steten Gefahren und Untiefen ausgesetzt, durchmisst das schwankende Gefährt die eigene Seelenlandschaft auf der Suche nach dem Selbst, das unentdeckt seiner Offenlegung harrt. Die Entdeckungsfahrt in die Ferne, metaphorisch im Reiseweg nach Indien gefasst, wird zur nahsichtigen Erkundung des eigenen Ichs, zur selbstreflexiven Bespiegelung des inneren Kosmos, in dem verborgene Wahrheiten ihrer Preisgabe entgegendämmern.