Zustände der Verwandlung
zu den Rippings von Peer Christian Stuwe
von Erich Franz (Katalogbeitrag Materialprobe, 1996)
Peer Christian Stuwe zeichnet Bewegungen und Strukturen, rhythmische Abfolgen auf die Fläche der Wellpappe – man kann auch sagen: er kratzt, schneidet, reißt sie in das Material hinein, er arbeitet in die Tiefe und stellt ein Relief her – oder man kann sagen, er erzeugt Spuren einer raschen, dynamischen Aktion, deren ähnliche Abfolgen sich zu rhythmischen, tänzerischen Strukturen verdichten – oder auch: er hebt Formen und Strukturen in einer vorderen Ebene insel- oder plateauartig gegenüber einer tieferliegenden Schicht hervor, setzt sie farbig und flächig von den Eintiefungen ab, die in der aufgerissenen Wellpappenschicht Zwischenbereiche und Übergänge entstehen lassen – oder die vordere Ebene kann wiederum wie beim Tiefdruckverfahren als stehengebliebene, negative Restfläche gegenüber den eingetieften Linien/Spu- ren/Eingriffen wirken.
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Die visuelle Spannung dieser Rippings, deren Bezeichnung (von engl.: to rip = reißen) zugleich eine Hommage an die drippings (Tropf- und Spritzbilder) von Jackson Pollock und ihre dynamische, die Fläche insgesamt durchwirkende Spannung darstellen, diese visuelle Spannung entsteht bei Stuwe aus eben solchen Verzahnungen und Durchdringungen unterschiedlicher Auffassungen von Fläche und Tiefe, Figur und Grund, Positiv und Negativ. Was wir solcherart trennen, verbindet sich im nächsten Augenblick, wandelt sich um und verflüssigt unser Erkennen. Bewegung entsteht dann weniger aus jenem Agieren der Hand, das in den von ihr geschaffenen Formen erkennbar bleibt, sondern mehr noch aus der Unbeständigkeit des Sehens, das nichts Festes abgrenzen und nichts Positives für sich nehmen kann.
Der Blick wird nicht nur von formalen Bewegungen und Rhythmen über die Fläche hin weitergetrieben, sondern findet auch keinen Halt im Verhältnis des Vorderen zum Zurückliegenden, also in seiner Suche nach Abgrenzung und tiefenräumlicher Zuordnung. Die Geschichte der modernen Malerei ist auch – seit Cezanne – eine Geschichte der Entwertung und Entsicherung des Figur/Grund-Verhältnisses, das wir zum Begreifen von Körpern und zur Orientierung im Raum unwillkürlich herstellen. Immer neu geht es den Malern darum, das Verhältnis des Betrachters zum Betrachteten nicht in einer Perspektive (einer eindeutigen Durchsicht) zu verfestigen, sondern es zu verunsichern und mehrdeutig und beweglich zu machen.
Sicher, in unserer Umwelt orientieren wir uns nicht anders als in perspektivischer, egozentrischer Ausrichtung. Ein Bild aber, das immer die Festlegung und Abgrenzung einer Sichtweise bedeutet, kann in unserer rasanten, multiperspektivischen und pluralistischen Zeit nicht eine Ausrichtung des Betrachters auf das Gesehene festlegen. Der Realismus neuerer Kunst besteht eben darin, dass er das Verhältnis des Betrachters zum Bild verändert. Die Realität ist nicht mehr das, was uns objektiv vor Augen liegt, sondern das, wozu wir uns subjektiv stellen.
In diesem Zusammenhang sind auch die dynamischen Strukturen von Peer Christian Stuwe zu verstehen. Sie sind nicht Bewegungen von Formen, sondern des Sehens, dem sozusagen keine Zeit und kein Haltepunkt gegeben wird, um sein Gegenüber zu fixieren. Und dennoch kommt der Aspekt von Zeit, Sich-Zeit-Lassen und sogar Ruhe in all diese sich umwendenden und entwertenden Prozesse hinein. Jedes dieser Ripping-Bilder von Stuwe hält ja auch eine Art der Bewegung und Verwandlung in sich durch, spannt die Dynamik der Aktionen und Prozesse in das Immer-Gleiche der Gesamtstruktur (des ganzen Bildes) hinein, die selbst eher offen über die Bildränder hinausweist oder sich wie ein Magnetfeld in ihm verdichtet.
Stuwe kontrolliert also das Spontane und oft Gewaltsame des Einkratzens und Aufreißens und der körperlichen Bewegungen von Hand und Arm im Hinblick auf eine rhythmisch beibehaltene Gleichartigkeit, in deren augenfälliger, permanenter Wiederholung das dauernd Sich-Verändernde zur Erfahrung des Unabänderlichen wird. Jedes Bild baut somit einen anderen Spannungszustand, eine andere Bewegungs-Form auf, die uns auf besondere Weise herausfordert und dann doch – in diesem Aggregatzustand von Kräftedurchdringungen – uns als Ganzheit gegenübersteht. Durch leichte Änderungen im Verhältnis bestimmter Elemente gegenüber den mit ihnen verflochtenen kann die Wahrnehmung ganz unterschiedlich gelenkt werden: durch die Linie, die Bewegungsrhythmik, die Gesamtheit der Struktur, das spontane oder materielle Einzelelement, die stehengebliebenen Flächen, die Heftigkeit oder sanfte Leichtigkeit, die Grossformigkeit oder Kleinteiligkeit, die sich sammelnde Geschlossenheit oder das Offen- Ausschnitthafte, eine bestimmende Gerichtetheit der Bewegungen oder eine allgerichtete Richtungslosigkeit, auch übergreifende Groß-Rhythmen, Brüchigkeit oder Flüssigkeit, Schmalheit oder Breite (und damit verschiedene Schnelligkeiten). Es entstehen verschiedene Zwischenzustände zwischen Linie und Fläche, Linie und Farbe, sanfte Farbannäherungen oder grelle bisweilen flimmernde Farbkontraste, ein Vor- und Zurücktreten, und immer spielen die möglichen Übergänge zwischen den vorderen und rückwärtigen Lagen der Wellpappe mit – also etwa zwischen Linie und Farbe oder Vorne und Tiefe.
All das ergibt eine immer neue Dramatik des visuellen Gesamtgeschehens. Wir empfinden sie als Herausforderung an unser Sehen, das nicht zur Ruhe kommt und das dann doch – in der jeweiligen Form seiner Unruhe – einen für jedes Bild spezifischen Zustand der Verwandlungsweise erreicht. Diese Bilder machen uns also nicht nur sichtbar, sondern auch erst denkbar, dass ständiger Wandel und Ungreifbarkeit doch als Unterscheidbares, Erfassbares und überhaupt Erkennbares sinnlich zu erfahren sind.