Ursprünglich bezeichnet „Panoptikum“ (wie aus dem Internet zu ergoogeln, auch zu lernen ist, wenn man es nicht sowieso schon weiß) eine von Jeremy Bentham (1748-1832) gegen Ende des 18. Jahrhunderts entworfene Bauweise für Gefängnisse und Fabriken. Der britische Philosoph hatte sich als Konstruktionsprinzip eine Strahlenbauweise ausgedacht, die eine besonders effiziente Überwachung der Gefangenen und Arbeiter ermöglichen sollte: Im Mittelpunkt steht ein Beobachtungsturm, von dem die Zellentrakte strahlenförmig abgehen und von dem aus der Wärter die Zellen einsehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Dieses Panoptikum macht seinem Namen alle Ehre: das Wort kommt aus dem Griechischen „pan“, alles und „optikos“, schauend, sehend, alles übersehend also. Soweit so eigentlich gar nicht gut.
Heute versteht man unter einem Panoptikum eher eine Sammlung von Sehenswürdigkeiten oder Kuriositäten. Das Panoptikum auf St. Pauli z.B. präsentiert seit mehr als 125 Jahren über 120 Wachsfiguren berühmter Persönlichkeiten aus Geschichte, Kultur, Politik, Showbusiness und Sport, ergänzt durch eine kleine Gruselecke sowie ein medizinisch-historisches Kabinett. Und in „Castans Panoptikum“, einem Berliner Wachsfigurenkabinett, das es von 1869 bis 1922 gab, standen ehrenwerte Persönlichkeiten oft nicht weit entfernt von Massenmördern wie Jack the Ripper. Von einer anderen bekannten Figur aus der Kriminalgeschichte, Karl Ludwig Sand, der 1820 in Mannheim mit dem Schwert hingerichtet wurde, weil er August von Kotzebue ermordet hatte, zeigte „Castans Panoptikum“ gleich mehrere Reliquien, darunter „ein Stückchen Holz vom Schaffot, auf welchem er hingerichtet wurde“.
Peer Christian Stuwes „Panoptikum () der Banalitäten“ ist eigentlich weder gruselig noch stellt es berühmte oder berüchtigte Persönlichkeiten in Wachs aus – eher schon (Peer möge mir verzeihen) erinnern die () Kästen, in denen er Spuren (ab)gelebten Lebens hinter () Glas eingesperrt hat, an Gefängniszellen oder aber an das berühmte Kabinett der Madame Tussaud in Paris, auch in Stuwes Kabinett des Banalen werden Dinge auf den Sockel gehoben oder aber eben in Kästen eingesperrt. Bloß nichts wegwerfen! Keinen Nagel, keine runtergebrannte Wachskerze. Aber auch keine Gedanken. Auch Reste von Texten, versehentlich in der Hose mit gewaschene Aufzeichnungen oder das Fragment eines Gedichts, finden sich, () konserviert in Gurkengläsern, in diesem Panoptikum.
Viele, die meisten Menschen, sammeln. Die Dinge, die wir aufheben, legen Spuren unseres (ab)gelebten Lebens bloß, nur beachtet eigentlich niemand außer uns selbst unsere wunderbare Muschel- oder Steinesammlung. Das ist der Unterschied – der Künstler Peer Christian Stuwe sammelt alle möglichen, vielleicht auch unmöglichen Dinge nicht nur, legt sie beiseite und geht zur Tagesordnung über, sondern stellt sie zur Schau, hinter Glas, in eigens zu diesem Zweck hergestellten oder beim Weinhändler erworbenen Holzkisten, oder stellt sein Sammelgut auf Sockel, die er wie Gesimse an die Wand gebracht hat.
So zur Schau gestellt umgibt all die banalen Sachen eine geheimnisvolle Aura. Alle Dinge in diesem Sammelsurium erzählen Geschichten. Keine bestimmten Geschichten, obwohl sie das natürlich könnten (wie meine Sammlung von Muscheln und Steinen).
Die Geschichten kommen uns in den Sinn während wir die zur Schau gestellten Dinge betrachten. Die Objekte des „Panoptikum der Banalitäten“ sind im historischen Ratssaal, jetzt Ausstellungsraum des Beckumer Stadtmuseums, gruppiert, angeordnet um zwei alte Heiligen-Statuen aus Stein. Gegenüber der weiße Schlittschuhstiefel, etwas vergammelt, ausgeleiert, leicht schäbig erzählt vielen vieles und immer anderes, je nachdem, was wir, die BetrachterInnen so erlebt haben und was uns nun angesichts dieses weißen Stiefels einfällt. Die in einen Schaukasten eingesperrte vertrocknete Rose, eher ein Röschen, diese Rose war eine Rose war eine … war eine Rose, war eine – anders als die „Pfeife“ von René Magritte, die keine Pfeife ist und auch niemals eine war. Ein abgestoßenes schwarzes Brillenetui, geöffnet, in dem jetzt anstelle einer Sehhilfe ein brauner Tannenzapfen und ein kleines rotes Herz zum Anstecken aufbewahrt wird, erinnert im Kasten hinter Glas an den Valentinstag. Ein „wirkliches“ Brotmesser, das, etwa 25cm lang, in der Mitte schon etwas dünn, nun in einem anderen Kasten präsent ist, erinnert daran, dass der Vater des Künstlers mit diesem Messer zu Hause immer das Brot geschnitten hat. „Papa schneidet Brot nicht mehr“ heißt diese Arbeit. ()