Peer Stuwe: Metamorphosen. (Katalog)
Dr. Martin Gesing
Die Metamorphosen des römischen Schriftstellers Ovid (43 v. – 18. n. Chr.) gehören zum Standardrepertoire des bildungsbeflissenen, abendländischen Gelehrten. In seinem umfangreichen epischen Sagengedicht beschreibt der antike Dichter die mythologischen Verwandlungen, denen Menschen oder Götter ausgesetzt sein können, wenn sie sich aufgrund bestimmter Umstände zum Beispiel in eine Pflanze, ein Tier oder ein Sternbild verwandeln. Ovid verarbeitet etwa 250 Sagen aus der griechischen und römischen Mythologie, weshalb die Metamorphosen seit ihrem Erscheinen zu den populärsten mythologischen Werken zählen. Seit dem Mittelalter sind sie bei Schriftstellern, Poeten und natürlich Künstlern beliebte Ideengrundlage, da sie ein umfangreiches und phantasievolles Kompendium figürlicher Gestaltungsvorlagen bieten.
Peer Stuwes Arbeit handelt ebenfalls von Metamorphosen, denn er präsentiert Arbeiten aus bestimmten Werkstoffen, die er einer mehr oder minder starken Verwandlung unterzieht. Was die Anzahl möglicher Verwandlungen, Umwandlungen und Transformationen von dem einen Zustand in einen anderen anbelangt, wird Ovid jedoch von Peer Stuwe noch übertroffen. Grundsätzlich anzumerken ist, dass die Verwandlungen Peer Stuwes sich nicht des göttlichen Zaubers bedienen, sondern der Zauberei der Kunst. Stuwes Metamorphosen funktionieren, weil sich die Bildende Kunst der Sinnestäuschung bedient. Diese uralte Erkenntnis setzt er mit zeitgemäßen Mitteln um. Wegen der Möglichkeit der Sinnestäuschung hat sich bereits Platon in seiner Politeia (4. Jh. v. Chr.) mit sehr abschätzigen Konnotationen insbesondere über die Malerei geäußert. So kann ein Bild einen Apfel darstellen, der Betrachter mag sogar Appetit auf Äpfel bekommen, aber er kann den gemalten Apfel nicht essen. Die gemalte Landschaft kann nicht erwandert werden – allenfalls in Gedanken – und das Blumenstillleben verströmt keinen Duft. Selbst das Ready-made, das den Gegenstand angeblich unverändert zum Kunstwerk erhebt, kann dies nur tun, indem dem Gegenstand die Aura eines Kunstwerkes hinzugefügt wird. Nur so konnte das Pissoir Marcel Duchamps zum Kunstwerk mutieren.
Die Kunst arbeitet folglich immer mit der Fähigkeit des geübten Betrachters, gewohnte oder ungewohnte Dinge zu reflektieren und den Versuch der Einordnung vorzunehmen. Und da Kunst nur über die sinnliche Wahrnehmung funktioniert, kann die Sinnestäuschung gelingen. In der Bildenden Kunst geht es vorrangig um die Täuschung des Sehsinns, aber auch die anderen Sinne sind hiervon betroffen. Die Möglichkeit der Täuschung und die Gabe der Reflexion sind besondere menschliche Eigenschaften. Ein Pferd zum Beispiel würde sich nicht von dem gemalten Apfel täuschen lassen und ein Hund nicht von der gemalten Wurst.
Diese Erkenntnisse sind wie gesagt nicht neu, sollen aber hier einleitend betont werden, um die Vorgehensweise von Peer Stuwe zu verdeutlichen. Die Täuschung der Sinne wurde in jeder Epoche mit unterschiedlichen Mitteln angewandt und erstreckt sich vom prähistorischen Kunstschaffen bis in die Jetztzeit. Picasso zum Beispiel sprach in Bezug auf die Täuschung sogar von der Kunst als einer Lüge, allerdings von einer solchen, „die uns erlaubt, uns der Wahrheit zu nähern,…“ In Anlehnung daran und um diese Erkenntnis zu betonen, betitelte Sigmar Polke 1997 seine Retrospektive in Bonn und Berlin als „Die drei Lügen der Malerei“.
Peer Stuwe verfolgt einen ähnlichen Ansatz, sich der Wahrheit der Dinge zu nähern. Hierbei nimmt er seinen Materialien ihre ursprüngliche Wahrheit und wandelt sie in eine neue. Allerdings präsentiert er keine „Lügen“, denn seine Arbeiten geben ihre Genese stets deutlich und anschaulich zu erkennen. Sie verheimlichen nicht ihre ursprüngliche Funktion, aber sie stellen die gewohnten Dinge des Alltags in Frage. Einiges wird hierbei zur Erhabenheit aufgewertet, Anderes wiederum in seiner Doppelbödigkeit entlarvt und Manches auch schelmisch durch den Kakao gezogen. Drei Werkgruppen, die dieses Vorgehen veranschaulichen, sollen im Folgenden vorgestellt werden. Sie sind quasi eine Essenz seiner künstlerischen Arbeit der letzten 20 – 30 Jahre.