Materialität und Ästhetik

Ausgangspunkt der Skulpturen Peer Christian Stuwes ist Stahl, genauer gesagt Reststahl aus der stahlverarbeitenden Industrie. Teile von Stahlträgern, deformierte Gitterroste und Formreste mächtiger Stahlplatten, die als Abfallprodukte gefräßiger  Nibbel- und Trennapparaturen auf dem Schrott gelandet sind, bilden die Grundlage seiner skulpturalen Arbeit. Für das möglichst profitable Heraustrennen von Formteilen werden in den Firmen die normierten Stahlplatten auf ihre äußerste Effizienz hin berechnet und derart ergiebig ausgenutzt, dass nach dem Trennvorgang lediglich schmale Grate oder skurrile Restflächen verbleiben, aus denen keine weiteren Formstücke gewonnen werden können und die im wahrsten Sinne des Wortes fast von allein abfallen.

Diese Abfallprodukte dienten Peer Christian Stuwe anfangs als objet trouvé, später auch als Ausgangsformen, die durch Kombination mit weiteren Fundteilen eine neue Konstellation ergaben. Entsprechend der Verarbeitung derartiger Stähle in der Industrie handelt es sich um dünnwandige Werkstücke oder solche von wenigen Zentimetern Stärke. Seine Funde macht Peer Christian Stuwe auf Schrottplätzen, wo der Magnetbagger den Stahl zu imaginären Skulpturenhaufen aufgeschichtet hat.

Aus dem Chaos des zusammengewürfelten Materials ergibt sich eine gewisse Ordnung, die Anregung und Auslöser für neue Arbeiten sein kann. Die gewaltsame Destruktion des Stahls ermuntert zur neuen Konstruktion. Auf der Suche nach Interessantem macht Peer Christian Stuwe seine Entdeckungen. Jeder Fund ist eine faszinierende Offenbarung an Formen und neuen ästhetischen Inhalten. Die durch das Ausschneiden aus einer Stahlplatte gegebene Flächigkeit der Fundstücke wird in der Regel beibehalten. Auch weitere hinzugefügte Fundstücke ordnen sich überwiegend der Flächigkeit unter, so dass die Skulpturen paradoxerweise den Charakter einer Silhouette erhalten. Andere haben die bei Skulpturen gewohnte tiefenräumliche Ausrichtung.

Allen Werkstücken sind die maschinellen Arbeitsspuren sichtbar belassen beziehungsweise neue erkennbar hinzugefügt. Der Stahl ist unbehandelt und zeigt verschiedene Phasen der Oxydation, die ein warmes, vibrierendes Rostbraun auf der Oberfläche erzeugt. Stahl ist kein Edelmetall. So fehlt den Arbeiten jeglicher Glanz oder Lack. Die Schönheit der rostroten Oberfläche hat andere Ursachen. Der nagende Zahn der Zeit hat hier seine ästhetische Handschrift hinterlassen. Der künstlerische Eingriff in die vorgefundene Situation besteht zunächst darin, dass die Fundstücke ihrer bisherigen Bedeutung entrückt werden. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass sie mit einer Standfläche versehen auf einen Sockel aus Stein oder ebenfalls Stahl platziert werden. Andere wurden durch Aneinander- oder Übereinanderfügen kombiniert. Die vorgefundenen Teile werden in der Regel unverändert übernommen oder aneinandergeschweißt. Diese Vorgehensweise entspricht dem Material – beide sind karg, einfach und zugleich elementar. Im Unterschied zu Holz oder Marmor, aus denen klassischerweise Skulpturen erstellt werden, ist Stahl kein Natur-, sondern ein Kunstprodukt. Seine Verformungs- und Verwendungsvielfalt ist daher fast unbegrenzt. Da dieses Kunstprodukt in nahezu beliebiger Beschaffenheit und Menge hergestellt werden kann, fehlt ihm als Material jegliche Individualität. Es ist Serien- und Massenprodukt eines hochtechnisierten Arbeitsprozesses. Individualität erhält es erst durch den bildhauerischen Eingriff, durch den es eine authentische und nicht repro- duzierbare Form erhält.

So wandelt sich das Maschinenprodukt zum Kunstobjekt. Der maschinelle Trennvorgang hat der rohen Stahlplatte fast alles genommen, was ihr zur Vollendung als Kunstwerk fehlt. So sind die Veränderungen oder Ergänzungen, die Peer Christian Stuwe vornimmt, oftmals nur ein kleiner, weiterer, doch essentieller Schritt. So entstehen bizarr-groteske Gebilde, rohe Kraft und Unbezähmbarkeit zugleich visualisierend, weit und ausholend in den Raum hineingreifend, vergleichbar der Wildheit eines indianischen Federschopfes. Antropomorphe Gebilde wachsen in existenzieller Klarheit empor, feingliedrig und sensibel den Umraum ertastend, als seien sie Vorboten eines zivilisierten Einlenkens unbändiger Kräfte. Urzeitlich anmutende Tierbilder oder Figurationen mutieren zu bizarr chiffrierten Bildzeichen von euklidisch-konstruktivem bis organischem Charakter. Die Skulpturen Peer Christian Stuwes sind von elementarer und daher unmissverständlicher Kraft.

Diese beziehen sie neben ihrer Materialität auch aus ihrer zeichenhaften Kontur, die sie in die Nähe von Symbolen und magischen Zeichen rückt. Klarheit der Form, Unmittelbarkeit des Ausdrucks und Schlichtheit des Materials sind Kennzeichen seiner Arbeit. Materialität kann auch negiert werden. So verleugnen einige Arbeiten geradezu die bleierne Schwere des Stahls. Luftige Schwingen recken sich empor und ertasten in federleichter Weise die Weite des Umraums. Die Aussagekraft seiner Arbeiten erreicht Peer Christian Stuwe durch konsequente Umkehrung aller Werte, die üblicherweise mit Stahl verbunden werden. Diese Umkehrung bezieht sich auf technische wie auch inhaltliche Dinge. Aus den eigentlichen Negativformen schafft er Positivformen, aus Restkörpern werden vollständige Formen, das Negativprinzip formt er zu einem Positivprinzip, technoide Effizienz wandelt er zu verschwenderischem Formenreichtum, aus Rost wird Schönheit, nutzloser Abfall erhält eine tiefere Bedeutung, aus Wertlosem erwächst plötzlich ein Sinn.

Durch die Umkehrung aller Prinzipien der gewinn- und profitorientierten Welt aktiviert er jenen irrational-fiktiven Bereich unserer Wahrnehmung, der ebenso gültiger Bestandteil unseres Daseins ist. Der Zeichner Alfred Kubin (1877-1959) bezeichnete diesen Teil unserer Erkenntnis- und Vorstellungswelt in seinem gleichnamigen Roman als ”Die andere Seite”. Auch Destruktion, Zerstörung und Neugeburt sind wichtige Aspekte der aufgenagten, aufgebrochenen und zertrennten Formen. Die gewaltsame Entstehung der Stahlfragmente ist wichtiger Bestandteil der Skulptur: Schweißnähte, Überdehnungen, Bruchkanten und die ”Bißspuren” der Nibbelmaschine wirken wie Narben auf der plötzlich sensibel und dünnhäutig wirkenden Oberfläche. Diese Brüche und Übergänge, auch Verletzungen der vordersten Haut, begegnen uns in vergleichbarer Form bei seinen aus Wellpappe gearbeiteten Rippings. Auch dort sind ihm die Einfachheit und serielle Struktur des Materials Anregung zur Auseinandersetzung. Materialprobe nennt er diesen Disput und umschreibt damit seinen experimentellen Umgang mit dem von ihm gewählten Material, das hinsichtlich seiner Qualitäten und Dimensionen stets neu ausgelotet wird.
Martin Gesing  (Katalogbeitrag Materialprobe, 1996)