Peer Christian Stuwe – Ein Dolmetscher der Sprache der Dinge / Dr. Ursula Franke in: Die Ästhetik des Profanen
Die Rede von der Sprache oder besser den Sprachen der Kunst ist uns vertraut. Konrad Fiedler (1841-1895) vergleicht in seiner Abhandlung „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“ (1887) die künstlerische Tätigkeit mit der Sprache. Künstlerische Tätigkeit und Sprache sind gleich ursprünglich. Während unsere Sprache das Medium ist, in dem wir irgendeinen Gegenstand, Tisch, Baum, Berg bezeichnen, artikulieren die Künste jenseits der Worte liegende Vorstellungen und Erfahrungen: Die bildenden Künste arbeiten an der Sichtbarkeit der Welt. Nelson Goodman (1906-1998) thematisiert in seinem kunsttheoretischen Hauptwerk „Languages of Art“ (1968) die Bedingungen der bildlichen Repräsentation in den Künsten. Die bildenden Künste vergegenwärtigen eine spezifische Art der symbolischen Bezugnahme auf die Welt, eine Bezugnahme, die von Goodman als „Ways of Worldmaking“ (1978) aufgefasst und in ihrer Eigenart untersucht wird.
Von den Sprachen der Kunst also ist schon lange die Rede. Aber – Sprache der Dinge? Wie das? In seinem Aufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, den er 1916 verfasste, behauptet Walter Benjamin, was „sein geistiges Wesen“ in seinem Ausdruck nicht mitteilt, das könnten wir uns überhaupt nicht vorstellen. Jedes Ding in der belebten und in der unbelebten Natur habe „in gewisserweise“ an der Sprache teil (II 1, 140 f ).1 In gewisserweise: Mitteilbar ist das „sprachliche Wesen“ eines Dinges: „Die Sprache dieser Lampe z.B. teilt die Sprache der Lampe mit“, d.h. die „Lampe im Ausdruck“. Benjamin versteht Ausdruck medial. Das Mediale liegt in der Unmittelbarkeit der sprachlichen Mitteilung des (geistigen) Wesens eines Dinges oder eines Menschen, eine Unmittelbarkeit, die Benjamin magisch nennt.2 Die Dinge teilen im Ausdruck ihr Wesen mit. Das (geistige) Wesen der Dinge ist mitteilbar, sofern und nur sofern „es im Sprachlichen beschlossen liegt“: „Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache“. „Wem aber teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der Fuchs?“ Es ist der Mensch, dem sich alle Dinge mitteilen, und der Mensch benennt die Dinge. Die „Wahrheit“ dieser Antwort erweist sich für Benjamin „in der Erkenntnis und vielleicht auch in der Kunst. […] wenn Lampe und Gebirge und der Fuchs sich dem Menschen nicht mitteilen würden, wie sollte er sie dann benennen?“ (II 1, 142 f ). Doch die Sprache der Dinge ist stumm. Der Mensch bringt die Dinge zum Sprechen und Menschen teilen sich einander mit, indem sie die Dinge (der belebten und der unbelebten Natur) benennen. Das aber können sie eben allein deshalb, weil es die Dinge selbst sind, „die sich im Ausdruck ihrer selbst mitteilen“. Dinge sind Medien der Mitteilung. Die Sprache des Menschen, in der die Dinge zum Sprechen gebracht werden, artikuliert sich nicht allein im Laut, im gesprochenen Wort. Alle Kunstformen sind Sprachen: „Es gibt eine Sprache der Plastik, der Malerei, der Poesie“ (II 1, 156, vgl. 145). Plastik und Malerei sind in „Dingsprachen fundiert“. Dingsprachen sind „namenlos“, „unakustisch“. Die Sprachen der Plastik und/oder der Malerei sind Übersetzungen der Dingsprache.
Kunst heute und gestern
Peer Christian Stuwe bringt in seinen Arbeiten Eisenschrott, Abfallstücke aus der Metall verarbeitenden Industrie, Verpackungsmaterial, Wellpappen/Kartonagen mit deutlichen Spuren des Ge- und Verbrauchs und andere weggeworfene Dinge zur Sprache. Arme, povere Materialien, profanes Zeug, nutzlos, scheinbar ohne Wert. Die traditionellen Formen der bildenden Künste, Skulptur/Plastik, Malerei und die kostbaren Materialien, mit denen die Bildhauer früher einmal gearbeitet haben, Stein, Marmor, Bronze scheinen verabschiedet, bei Seite gesetzt. Doch ist das bei den Arbeiten des Bildhauers Peer Christian Stuwe gar nicht der Fall – die Materialien, mit denen er arbeitet, sind pover, gebraucht, Weggeworfenes. In der künstlerischen Sprache aber, in der die poveren Dinge sich uns mitteilen, vor unseren Augen erscheinen, bleiben Skulptur und Malerei, die vertrauten Kunstformen, auf wundersame, ästhetische Weise präsent: Ob Eisenschrott, Packmaterial oder sonst was – die Fundstücke sind gestaltet, inszeniert. Das Profane erscheint ambivalent, profan und ästhetisch. Wenn ich mich nun dieser Kunst auf dem Hintergrund von Benjamins Gedanken einer Sprache der Dinge zuwende und mich verbal den Arbeiten von Peer Christian Stuwe annähere / anzunähern versuche, dann habe ich auch die Entgrenzung und damit den Wandel der Künste vor Augen, wie er sich seit Jahrzehnten allmählich vor unseren Augen vollzogen hat und weiter vollzieht. Den Weg der Entgrenzung, den die (bildenden) Künste nach dem Zweiten Weltkrieg genommen haben, zeichnet exemplarisch die Kasseler documenta. Die Stationen, die diesen Weg durch ein halbes Jahrhundert säumen, markieren die Klimax der Westkunst. 3 Ein wesentliches Indiz des Wandels der Künste ist die Ablösung der geschlossenen Form durch offene, variable, künstlerische Formen, wie sie auch Stuwes Arbeiten kennzeichnen und auszeichnen.
Sind die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten wie auch zwischen Kunst und Leben, Kunst und Alltag, zwischen Kunst und Design, Technik und Wissenschaft unscharf geworden, so zeichnet sich im Zuge dieser Entgrenzung eine neue Bewertung und Bedeutung des Materials der Kunst ab. Die traditionelle, letztlich auf Platon zurückgehende, Entgegensetzung von (schöner) Form und (hässlicher) Materie ist obsolet geworden. Entgrenzung, Öffnung und Differenzierung der künstlerischen Form, Neubewertung des Materials, Vorrang ‚armer Materialien’ erfordern Kategorien der Beschreibung, die jenseits der ästhetischen Kategorien des Schönen und Hässlichen in ihrem traditionellen Wertverständnis liegen.4 Als Kategorien zur Beschreibung haben sich Stichworte wie Installation, Inszenierung, Performance, Medialisierung herauskristallisiert. Kategoriale Verortungen wie: Temporalisierung, Prozessualität, Formveränderung, Spurensicherung erlauben eine verbale Annäherung an zeitgenössische, künstlerische Arbeiten durch eine am Material orientierte Beschreibung.5
Ornamentale skulpturale Formen aus Schrott und die Farbe des Eisens
„Eisenzeit“ in den Flottmann-Hallen Herne ist eine Installation, wie sie im Buche steht, ein Raum greifendes und den Raum definierendes künstlerisches Arrangement aus Objekten und Wandgestaltung.6 „Eisenzeit“ zeigt Fundstücke aus Eisenschrott, die von Peer Christian Stuwe zu Kunstgegenständen, Skulpturen von unterschiedlicher Größe, so zwischen 40 cm und 220 cm hoch, zusammengestellt, zusammengeschweißt worden sind. Die Installation wird bestimmt von Determinanten des Volumens, von den Größenordnungen und Proportionen der Skulpturen. Aus dem Verhältnis zum Raum bezieht die Arbeit ihre Wirkung. Die Lichteinwirkung lässt Sehbarrieren entstehen, die den Blick des Betrachters zum Stolpern und so zum Aufmerken auf den Umraum, die Flottmannhalle, bringen. Es ist eine Inszenierung, die Beziehungen zwischen den oftmals bizarren, auch skurrilen Assemblagen/Formen der Dinge aus Eisen, emphatisch oder auch ironisch, herstellt. Die zusammengeschweißten Fundstücke aus Eisenschrott erscheinen ornamental gegliedert und die einzelnen Teile optisch gegeneinander abgesetzt. Es sind abstrakte Gebilde, die manchmal, wenn man es weiß, erahnen lassen, dass wildwüchsige Pflanzen, die im Garten vor seinem Atelier emporschießen, den Bildhauer beim Zusammenfügen der Schrottteile inspiriert haben – „Pflanze empor“ oder „Blüte“ sind dann auch die Titel solcher Skulpturen. Die ornamentalen Konfigurationen / Konstellationen der Eisenskulpturen formieren sich je nach dem Standpunkt und somit dem Blickpunkt des Betrachters immer neu und anders, irgendwie durcheinander, chaotisch oder aber geordnet, in Reih und Glied – Chaos und Ordnung. Die „Wandgestaltung“ der Installation „Eisenzeit“ wird in den Flottmann-Hallen durch das „Turin-Projekt“ bestritten. Peer Christian Stuwe setzt hier eine besondere, eine ‚Wikkeltechnik’ ein. Während des Arbeitsprozesses, während der Phasen des Ausprobierens, des Einwickelns der Eisenskulpturen in den wasserdurchtränkten Stoff sind Materialbilder entstanden, die unterschiedliche/differente Ansichten bieten. Unter den Händen des Bildhauers wird eine dreidimensionale Form in die Fläche, Skulptur in Malerei überführt. Die Form der Skulpturen kommt im Abdruck zum Vorschein; sie erscheint auf der Leinwand spiegelverkehrt, als skulpturale Form noch erkennbar oder aber die Form ist während des Arbeitsprozesses unkenntlich geworden, gänzlich verwischt, transformiert ins Malerische. Die Farbfelder zeigen die besondere Tonalität, den eigenartigen Farbton des Eisenpigments. Die Fundstücke aus Eisenschrott, die zu skulpturalen Objekten zusammengeschweißt wurden, kommen so in der malerischen Ästhetik ihrer Materialität zur Sprache (siehe Turin-Projekt). Während wir, die BetrachterInnen in der Raum greifenden Installation der Eisenskulpturen herumspazieren können, nehmen wir die Arbeiten des „Turin-Projektes“ als Bilder wahr. Auch diese objets trouvés, jene auf einem Schrottplatz herumliegenden und vom Künstler aufgehobenen und gesammelten Eisenstücke affizieren, bearbeitet, transformiert in Materialbilder, als kunstsprachliche Mitteilungen ihrer Materialität die Wahrnehmung. Der Titel „Das Turin-Projekt“ spielt natürlich auf das Turiner Grabtuch an, jene kostbare Reliquie der Christenheit, die nur in den Heiligen Jahren den Gläubigen präsentiert wird. 2010 wird es das nächste Mal der Fall sein. Der italienische Photograph Secondo Pia hatte 1898 die ersten photographischen Aufnahmen von dem Grabtuch gemacht. Als er die Platte entwickelte, zeichnete sich plötzlich das Antlitz Jesu Christi mit großer Klarheit auf der Platte ab. Das Turiner Grabtuch ist ein photographisches Negativ. Wegen des, freilich unterschiedlichen Verfahrens, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen, sei ihm eingefallen, mit dem Projekt seiner Materialbilder der (spiegelverkehrten) Negativabdrücke von Eisenskulpturen auf das Turiner Grabtuch anzuspielen, so sagt augenzwinkernd Peer Christian Stuwe – das Profane in der Perspektive des Heiligen?
Dingsprache des Verpackungsmaterials und Bilder poetischer Landschaften
Die Werkgruppe „Geritzt“ arbeitet, um es mit Walter Benjamin zu sagen, mit der „Dingsprache“ der Wellpappen. Häufig kommen die Pappen aus fernen Ländern, aus Asien zum Beispiel, aus Amerika, Russland oder Korea. Mittels einer Ritztechnik, durch den Einsatz eigens von ihm angefertigter spitzer oder scharfkantiger Werkzeuge übersetzt, dolmetscht Peer Christian Stuwe die Dingsprache des Verpackungsmaterials. Strukturen treten hervor, überlagert von Formen einer poetischen künstlerischen Komposition. Die strukturelle Eigenart der Wellpappen aus vieler Herren Länder wird durch den Einsatz weißer, schwarzer, auch blauer oder grünlicher Farbe sichtbar gemacht, ausgelöst durch das unterschiedliche Haften der Farbe an der sich manchmal wie ein Relief vorwölbenden Oberfläche des Pappmaterials. Gleichsam gegen das Material hat Stuwe mittels einer Schablone z.B. die Umrisse eines Bootes, die Kontur einer Kapsel oder die Körperform eines Fisches aufgebracht, formelhaft reduziert, erinnernd vielleicht an Miniaturmalereien in alten Stundenbüchern. Es sind Bilder, die in ihrer Materialität sowohl aus der Zeichnung der ritzenden Eingriffe in das Verpackungsmaterial/die Wellpappen als auch aus den Farbaufträgen, den unbestimmt begrenzten Farbflecken entstehen, aus denen sie die malerische Qualität poetischer Landschaften beziehen oder die Ansicht der Oberflächen erinnert an die Radiertechnik von Schriftbildern – Entgrenzung, Cross over der Künste. Erst die assoziativen Gedanken und Vorstellungen der BetrachterInnen, die individuelle Rezeption aber vollenden diese Materialbilder.
„Panoptikum der Banalitäten“ – Spuren (ab)gelebten Lebens
Ursprünglich bezeichnet „Panoptikum“ (wie aus dem Internet zu ergoogeln, auch zu lernen ist, wenn man es nicht sowieso schon weiß) eine von Jeremy Bentham (1748- 1832) gegen Ende des 18. Jahrhunderts entworfene Bauweise für Gefängnisse und Fabriken. Der britische Philosoph hatte sich als Konstruktionsprinzip eine Strahlenbauweise ausgedacht, die eine besonders effiziente Überwachung der Gefangenen und Arbeiter ermöglichen sollte: Im Mittelpunkt steht ein Beobachtungsturm, von dem die Zellentrakte strahlenförmig abgehen und von dem aus der Wärter die Zellen einsehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Dieses Panoptikum macht seinem Namen alle Ehre: das Wort kommt aus dem Griechischen „pan“, alles und „optikos“, schauend, sehend, alles übersehend also. Soweit so eigentlich gar nicht gut. Heute versteht man unter einem Panoptikum eher eine Sammlung von Sehenswürdigkeiten oder Kuriositäten. Das Panoptikum auf St. Pauli z.B. präsentiert seit mehr als 125 Jahren über 120 Wachsfiguren berühmter Persönlichkeiten aus Geschichte, Kultur, Politik, Showbusiness und Sport, ergänzt durch eine kleine Gruselecke sowie ein mediznisch-historisches Kabinett. Und in „Castans Panoptikum“, einem Berliner Wachsfigurenkabinett, das es von 1869 bis 1922 gab, standen ehrenwerte Persönlichkeiten oft nicht weit entfernt von Massenmördern wie Jack the Ripper. Von einer anderen bekannten Figur aus der Kriminalgeschichte, Karl Ludwig Sand, der 1820 in Mannheim mit dem Schwert hingerichtet wurde, weil er August von Kotzebue ermordet hatte, zeigte „Castans Panoptikum“ gleich mehrere Reliquien, darunter „ein Stückchen Holz vom Schaffot, auf welchem er hingerichtet wurde“.7 Peer Christian Stuwes „Panoptikum der Banalitäten“ ist eigentlich weder gruselig noch stellt es berühmte oder berüchtigte Persönlichkeiten in Wachs aus – eher schon (Peer möge mir verzeihen) erinnern die Kästen, in denen er Spuren (ab)gelebten Lebens hinter Glas eingesperrt hat, an Gefängniszellen oder aber an das berühmte Kabinett der Madame Tussaud in Paris, auch in Stuwes Kabinett des Banalen werden Dinge auf den Sockel gehoben oder aber eben in Kästen eingesperrt. Bloß nichts wegwerfen! Keinen Nagel, keine runtergebrannte Wachskerze. Aber auch keine Gedanken. Auch Reste von Texten, versehentlich in der Hose mit gewaschene Aufzeichnungen oder das Fragment eines Gedichts, finden sich, konserviert in Gurkengläsern, in diesem Panoptikum. Viele, die meisten Menschen, sammeln. Die Dinge, die wir aufheben, legen Spuren unseres (ab)gelebten Lebens bloß, nur beachtet eigentlich niemand außer uns selbst unsere wunderbare Muschel- oder Steinesammlung. Das ist der Unterschied – der Künstler Peer Christian Stuwe sammelt alle möglichen, vielleicht auch unmöglichen Dinge nicht nur, legt sie beiseite und geht zur Tagesordnung über, sondern stellt sie zur Schau, hinter Glas, in eigens zu diesem Zweck hergestellten oder beim Weinhändler erworbenen Holzkisten, oder stellt sein Sammelgut auf Sockel, die er wie Gesimse an die Wand gebracht hat. So zur Schau gestellt umgibt all die banalen Sachen eine geheimnisvolle Aura. Alle Dinge in diesem Sammelsurium erzählen Geschichten. Keine bestimmten Geschichten, obwohl sie das natürlich könnten (wie meine Sammlung von Muscheln und Steinen). Die Geschichten kommen uns in den Sinn, während wir die zur Schau gestellten Dinge betrachten. Die Objekte des „Panoptikum der Banalitäten“ sind im historischen Ratssaal, jetzt Ausstellungsraum des Beckumer Stadtmuseums, gruppiert, angeordnet um zwei alte Heiligen-Statuen aus Stein. Gegenüber der weiße Schlittschuhstiefel, etwas vergammelt, ausgeleiert, leicht schäbig erzählt vielen vieles und immer anderes, je nachdem, was wir, die BetrachterInnen so erlebt haben und was uns nun angesichts dieses weißen Stiefels einfällt. Die in einen Schaukasten eingesperrte vertrocknete Rose, eher ein Röschen, diese „Rose war eine Rose war eine …“ war eine Rose, war eine – anders als die „Pfeife“ von René Magritte, die keine Pfeife ist und auch niemals eine war. Ein abgestoßenes schwarzes Brillenetui, geöffnet, in dem jetzt anstelle einer Sehhilfe ein brauner Tannenzapfen und ein kleines rotes Herz zum Anstecken aufbewahrt wird, erinnert im Kasten hinter Glas an den Valentinstag. Ein „wirkliches“ Brotmesser, das, etwa 25cm lang, in der Mitte schon etwas dünn, nun in einem anderen Kasten präsent ist, erinnert daran, dass der Vater des Künstlers mit diesem Messer zu Hause immer das Brot geschnitten hat. „Papa schneidet Brot nicht mehr“ heißt diese Arbeit. Reiz, ironische Verklärung und Schönheit des Profanen „Geritzt“, aber auch „Eisenzeit“ lassen die Herkunft des Bildhauers Peer Christian Stuwe von der Druckgraphik erkennen. Die klassische Linearität der graphischen Künste bricht Stuwe in seinen frühen Radierungen und Aquatinta-Arbeiten auf, die häufig an die Höhlenmalerei erinnernde Stierbilder darstellen. Die Linie franst aus, weitet sich zur Fläche.8 Die Formensprache dieser Anfänge macht den Charakter der künstlerischen Handschrift Stuwes unverwechselbar, von der sowohl die Materialbilder als auch die Eisenskulpturen geprägt sind, die ja letztlich auch Materialbilder sind. Bilder, die den Reiz sonst und gemeinhin unbeachtet bleibender Dinge pointieren und gleichwohl die Zeichen des Prozesses ihrer Entstehung, den Prozess der künstlerischen Bearbeitung nicht nur nicht verleugnen, sondern ihn vievielmehr durchaus als solchen vor Augen führen.
Sind die Arbeiten der Werkgruppen „Eisenzeit“ und „Geritzt“ durch Kriterien einer zeitgenössischen Materialkunst geprägt und beziehen daraus nicht zuletzt ihre Wirkung, so geht von den Fundstücken (ab)gelebten Lebens in den „Kästenbildern“, die Peer Christian Stuwe zu einem Panoptikum des Banalen inszeniert hat, Magisches aus, eine Magie, die ironisch gebrochen wirkt. Im Zwiegespräch zwischen Stuwes künstlerischer Sprache und der Sprache der Dinge erfährt die Dingsprache, die ja auch den weggeworfenen Dingen eigen ist, eine Transformation ins Narrative. Das erzählerische Element entsteht aus der ästhetischen Valenz, die dem Profanen verliehen wird, auch durch eine ironisch gebrochene Verklärung/Vergoldung. Die Arbeit „Das Goldene Zeitalter“ besteht aus zwei Panzersperren, eine davon mit Goldfarbe gestrichen, die vor der Propsteikirche St. Stephanus in Nachbarschaft zum Stadtmuseum Beckum postiert sind. Die Sperren erzählen einfach durch ihr Dasein und Sosein sarkastisch von früher, von den guten (goldenen) alten Zeiten, vom verlorenen Paradies, vom Goldenen Zeitalter, das ja nur als Fiktion existiert. Sie erzählen aber auch von Krieg und Gewalt, verweisen auch auf das Heute und die Zukunft, auf eine latente Bedrohung und Gefährdung des menschlichen Miteinanders und die Brüchigkeit und Fragwürdigkeit globaler Weltordnungsversuche. Auch die Verklärung der einen oder anderen Eisenskulptur, die in Gold getaucht in einem Ikea-Regal vor uns steht, ist ironisch – „Midas ist ein Esel“. Diesem König, so will es die antike Mythologie, wird unter den Händen alles zu Gold und er verhungert beinahe, seiner Goldgier wegen. Der durchaus wohlwollende, ja liebevolle ironische Blick, den Peer Christian Stuwe auf den Alltag der Menschen und die alltäglichen Dinge wirft, gilt in der Arbeit „Mal was richtig Schönes…“, einem Ensemble das zum „Panoptikum der Banalitäten“ gehört, seinem eigenen Metier der Kunst. Drei Betonsteine, die eigentlich als Pflastersteine dienen, sind, so etwas über Augenhöhe, an die Wand gebracht. Auf diesen Sockeln (übrigens von lateinisch „socculos“, kleiner Schuh) stehen eine billige Gips- Nachbildung des berühmten David von Michelangelo, die Peer Christian Stuwe sich einmal aus Florenz mitgebracht hat – wohlfeile Touristenware, dann ein Knochen, den sein Hund glatt, blitzblank sauber geleckt hat und ein Kunststück gefakter Materialität: eine Balsamico-Glasflasche, die, vergoldet wie eine, allerdings einhenkelige, Amphore aussieht, wie sie im antiken Griechenland zur Aufbewahrung von Öl und Wein diente. Darüber ein blinder Spiegel. Den aus Holzresten zusammengeklebten Holzrahmen kaufte Peer Christian Stuwe im Praktiker-Baumarkt und legte ihn mit Goldpapier aus. Golden angestrichen ist, wie man sieht, auch der Betonstein, auf dem die Billigkopie des David „Mal was richtig Schönes…“ spielt mit der ästhetischen Kategorie des Schönen. Einst emphatisch gemeint, den gewöhnlichen Alltag überhöhend, der metaphysisch gedachten Trias des verum, bonum, pulchrum verpflichtet, ist ein mit dem Wahren und Guten verknüpftes Schönheitsverständnis zerbrochen. Gibt es eine Wiederkehr des Schönen unter der Devise „Zu schön um wahr zu sein“, eine Schönheit der Oberfläche, die den menschlichen Körper und alle Dinge letztlich zur leeren, buchstäblich verflachten Hülle ohne Tiefe macht, eine kosmetische Schönheit, wie sie uns in den Bildern der Werbung, des Kinos und Fernsehens wie der Künste gleichermaßen begegnet und den Lifestyle, das Lebensgefühl stimuliert? Sind das Fragen, die auch Peer Christian Stuwe mit dem Ensemble „Mal was richtig Schönes…“ in seinem „Panoptikum der Banalitäten“ stellt? Jedenfalls, Schönheit, für Platon eine unsterbliche Idee, ist sterblich, weltläufig geworden, ja ein Label. Doch wäre es zu einfach, in der Ablösung des metaphysischen Schönheitsverständnisses zu Gunsten einer bloßen Oberflächenschönheit lediglich eine Verfallserscheinung der „wahren“ Schönheit zu sehen – nicht erst seit Adorno ist Schönheit eine promesse du bonheur, ein Versprechen des Glücks.
Ursula Franke
in: Katalog zur Ausstellung „Die Ästhetik des Banalen“, 2009/2010
1 Benjamins Abhandlung über die Sprache wird hier und im folgenden Text mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert nach: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, 7 Bde., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, Bd. II 1, S. 140-157. Benjamin entfaltet sein Verständnis der Sprache in einer Analogie zur biblischen Genesis Erzählung, der Schöpfung der Welt durch Gottes Wort. Vgl. Michael Bröcker: Sprache, in: Benjamins Begriffe, hg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, 2 Bde. Frankfurt/Main 2000, II S. 740-773, bes. S. 748-751.
2 Vgl. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/Main 1995, bes. 9-33.
3 Vgl. Harald Kimpel: Documenta. Die Überschau, Köln 2002. 4 Vgl. Ursula Franke: Jenseits von schön und hässlich. Eine Skizze im Blick auf die Gegenwartskunst, in: Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Hässlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, hg. von Heiner F. Klemme, Michael Pauen, Marie-Luise Raters, Bielefeld 2006, S. 289-304.
5 Vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2002, S. 9-15.
6 Vgl. „Installation“ und „Rauminstallation“, in: DuMonts Kunstlexikon des 20. Jahrhunderts – Künstler, Stile und Begriffe, hg. von Karin Thomas, Köln 2000, S. 192 und338f.
7 Vgl. den Führer durch Castans Panoptikum von 1899,49. S. a. Angelika Friederici: Castan’s Panoptikum. Ein Medium wird besichtigt, Berlin 2008.
8 Vgl. Bennie Priddy: Dem inneren Kompass folgen und „Stiere“, in: In eigener Sache, Ausstellungskatalog Museum Abtei Liesborn 05.Mai – 30. Juni 2002, S. 4-6 und S. 8-16